Erinnern – verstehen – versöhnen
80 Jahre Kriegsende in Norwegen
Fähnrich Terje Rollem stand in der warmen Mailuft auf dem Hof der Akershus-Festung. Nichts an ihm deutete darauf hin, dass dies ein historischer Augenblick war. Er fühlte sich „wie ein Junge aus dem Wald“ gestand er später. So stand er da in gestrickten Trachtengamaschen, Knickerbockern und seiner alten Uniformjacke. Ihm gegenüber Major Josef Nichterlein und sein Adjudant Hauptmann Johannes Hamel, beide in korrekter Uniform, polierten Stiefeln, behandschuht und mit ihren Orden an der Brust. Aber nicht sie waren die Sieger, die Mächtigen, sondern der norwegische Jedermann, der „Junge aus dem Wald“ mit seinen Kameraden, die im Hintergrund blieben.
Terje Rollem war an jenem 11. Mai 1945 um 14.30 Uhr 29 Jahre jung. Die Mischung aus Triumph, Erleichterung und Freiheitsgefühl in ihm bewirkte, dass er den Rücken durchdrückte und kerzengerade dastand. Er übernahm für die norwegische Widerstandsbewegung Milorg die Akershus-Festung von den Deutschen. Schon vor drei Tagen, in der Nacht des 8. Mai 1945 war er per Funk über die deutsche Kapitulation informiert worden. In gebrochenem Deutsch teilte er dem Major mit, dass er nun die Festung übernehmen werde. Major Nichterlein hielt eine letzte fünfminütige Ansprache an die rund 400 Soldaten, die noch in der Festung stationiert waren. Terje Rollem ging zusammen mit dem Hauptmann Hamel auf dem Burggelände umher und ersetzte die deutschen Wachen durch seine eigenen Milorg-Kameraden. Zwei zum Tode verurteilte Polen ließ er frei. Dann hissten sie die norwegische Flagge. Schließlich ordnete er an, dass Major Nichterlein und seine Männer in das Kriegsgefangenenlager in Skien verlegt werden.
Der norwegische „Jedermann“ in den Wohnzimmern
„Dass dies ein historischer Moment war, kam mir nicht in den Sinn“, sagte Terje später. Aber zum Glück hatte einer seiner Kameraden dem Aftenposten-Fotografen Johannes Stage Bescheid gesagt, der die Szene der Übergabe der Akershus-Festung auf einem Foto festhielt. Ein Foto, das später in Schulen und vielen norwegischen Wohnzimmern hing, auf norwegischen Briefmarken zu sehen war: Der junge norwegische „Jedermann“ in Knickebockern mit dem durchgestreckten Rücken, Symbol für das Ende der Unterdrückung und die wiedergewonnene Freiheit.
Heute, 80 Jahre später, erinnern wir uns an diesen Moment, der das Trauma für Norwegen beendete. Die norwegischen Widerstandskämpfer berichteten, dass in den Tagen nach der Kapitulation durchaus noch die Angst umging, dass die deutschen Soldaten sich nicht in die Niederlage fügen könnten und man noch einmal die Waffen würde sprechen lassen müssen. Aber schnell wechselte die Angst die Seiten. Es waren die Deutschen, die sich fürchteten – vor der Rache der Norweger, vor Hass, vor der Forderung, die Unterdrückung, den Verlust, das Leid wiedergutzumachen, das doch nicht wiedergutzumachen war.
Wie mögen sich die Deutschen gefühlt haben, die bereits vor der Besetzung Norwegens im Land lebten und arbeiteten und nun auch das Kriegsende hier miterlebten? Interessant wäre es, ihre Tagebucheinträge oder Briefe aus diesen Tagen zu lesen, Gespräche am Küchentisch zu belauschen zu können. Welche Gedanken zwischen Scham und Schuld, Angst und Verunsicherung, gingen ihnen durch Herz und Seele? Trotz einiger Recherchen haben wir in der Gemeindebrief-Redaktion keine solchen Zeitzeugenberichte gefunden. Wer solche Berichte, vielleicht von Eltern, Großeltern oder Freunden noch im Ohr oder gar auf Papier hat – wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten!
Gemeinde am Abgrund
Für die Deutsche Evangelische Gemeinde hätte das Kriegsende durchaus auch das Todesurteil bedeuten können. Viele Deutsche mussten das Land verlassen. Noch im Mai wurden bei einer Durchsuchung des Pfarrbüros Akten, Kassenbücher und die Mitgliederkartei mitgenommen und das Vermögen der Gemeinde durch das „Direktorat für feindliches Eigentum“ beschlagnahmt. Das Gemeindeleben ruhte völlig, Gottesdienste in deutscher Sprache waren undenkbar. Zu den „Aussichten für das Fortbestehen der Deutschen Gemeinde in Oslo“ berichtete der damalige Pfarrer Helmut Schieck im Kirchenvorstand am 2. Oktober 1945, „dass alle Fragen nach wie vor schwebend sind.“ So steht es im Kirchenvorstandsprotokoll.
Vorstandsmitglieder waren zu diesem Zeitpunkt neben dem Pfarrer, der im November beurlaubt und später nach Deutschland zukehren würde, nur noch drei Männer: der Kaufmann F. Mitusch, der Dolmetscher E. Siewert und der Fabrikant Th. Blumhardt. Alle drei waren in Deutschland geborene norwegische Staatsangehörige und konnten deshalb weiterhin die unsicheren Geschicke der Gemeinde führen.
Am 8. Oktober 1945 wurde die Beschlagnahme des Vermögens wieder aufgehoben. So hatte die Gemeinde minimale Einnahmen durch die Zinsen des Bankguthabens. Bibeln, Gesangbücher und andere Bücher aus dem Bestand der Gemeinde wurden an die Kriegsgefangenen weitergegeben. Im Sommer 1947 feierte die Gemeinde das erste Mal wieder einen Gottesdienst und hielt wenig später die erste Gemeindeversammlung nach dem Kriegsende ab.
Von Anfeindung zu Freundschaft
Die Anfeindungen waren immer noch groß. Entsprechend groß war die Angst, sich als Mitglied der Gemeinde zu erkennen zu geben oder die deutsche Sprache in einem öffentlichen Gottesdienst zu benutzen. Dass die Gemeinde weiter fortbestand, war nicht nur dem Einsatz der verbliebenen Vorstandsmitglieder zu verdanken, sondern auch der Ermutigung und dem Versöhnungswillen der norwegischen Kirche. So berichtet Pfarrer Viktor Hermann Günther in der Festschrift zum 50. Geburtstag der Gemeinde (1959), dass es auch die „norwegischen Kirchenfreunde“ waren, die zur Wiederaufnahme der deutschsprachigen Gottesdienste ermutigten und sagten: „Wir brauchen euch als Bindeglied zwischen unseren beiden Kirchen und Völkern.“
Die antideutsche Stimmung hielt sich noch lange im Land und veranlasste eben jenen Pfarrer Viktor Hermann Günther in einem unveröffentlichten Manuskript von 1956 zu der pessimistischen Prognose: „Daß der Durchschnittsnorweger je zu einer freundlichen Einstellung gegenüber Deutschland gelangen wird, scheint mir unwahrscheinlich.“
Nun, die Entwicklung der rund 70 Jahre nachdem Pfarrer Günther diesen Satz geschrieben hat, zeigt ein anderes Bild. Gottseidank können wir heute, 80 Jahre nach dem Kriegsende, anhand von vielen Beispielen von Versöhnung und Freundschaft zwischen den Menschen beider Länder erzählen. Beispiele die zeigen, dass Kirchengemeinden Brückenbauer sein können und sind und dass das Erinnern und Verstehen dem Versöhnen vorangeht.
(Lutz Tietje)