Nau anfangen. Warum? Wodurch?!
Passion bedeutet Leiden. Bevor Jesus den Tod am Kreuz erleidet, sagt er über seine Peiniger:
Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Liebe Gemeinde!
Ich weiß noch: Als Kind hat mich das am schwer beeindruckt: „Dass Jesus auch diesen noch vergeben hat, die ihn ans Kreuz gebracht haben“. Darüber habe ich schon damals sehr gestaunt.
Der Eindruck des Staunens ist bei mir bis heute geblieben. Staunen über Vergebung. Auch heute, in meiner Umwelt passiert das manchmal. Auch da bin ich auch heute noch zutiefst staunend. Vergebung ist eine sehr große Geste. Denn immerhin ist das der Ausgangspunkt für einen Neuanfang, für einen ganz neuen Weg.
Eines aber hat sich bei mir seit Kindheitstagen aber gewaltig verändert:
Ich bin mir inzwischen sicher, dass Jesus seine Worte gar nicht an „die da, damals“ gerichtet hat.
Wenn ich Jesu Passion heute lese, dann glaube ich, dass es völlig falsch und missverstanden ist, wenn ich mich heute hinstelle und mit dem Finger von außerhalb auf die Leute, die Jesus kreuzigten und verhöhnten, zeige.
Auch wenn ich es gern möchte: mit dem Finger auf andere zeigen, oder mich außerhalb von Schuld hinzustellen und zu sagen: „Die waren es.“
Denn ich bin mitten drin, bei diesen Menschen.
Ich befürchte, ich bin einer von ihnen.
Sicher, der Tod Jesu am Kreuz, der ist fast 2.000 Jahre her, und doch: sein Leiden geht weiter. Das kann ich täglich sehen: das Leiden Gottes an und in seiner Welt.
Dazu brauche ich nur in die Nachrichten oder die Zeitung zu schauen. Ich kann mir Gott nur denken als einen denken, der all dieses Leiden nicht macht, sondern als einen, der unter dem Vielem, was in unserer Welt Leid erzeugt, leidet.
Hat Gott die Welt nicht „gut“ gemacht? Im Schöpfungsbericht steht sogar, er hat sie geradezu paradiesisch geschaffen. Und, ist sie noch immer paradiesisch? Vieles von dem, was dem paradiesischem Zustand Schaden und Leid zufügt, hat eindeutige Ursachen, die mit Gott absolut nichts zu tun haben. Außer, dass er daran leidet. Wie wir? Ich glaube mehr, denn es ist sein Schöpfungswerk, das leidet.
„Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus.
Wenn ich dieses Wort ernst nehme, dann erschrecke ich – über mich und über andere: Das Leiden anderer, das ich verursache; das Leiden anderer, gegen das ich nichts tue; das Leiden anderer, das mich nicht rührt, das alles ist das Leiden Jesu heute.
In einem Passionslied heißt es:
„Herr, immerfort wirst du von uns gekreuzigt.“
Immerfort, durch mich, durch Sie.
Durch unsere Gleichgültigkeit, Besserwisserei, unser Missverstehen und unser Vorurteil, unser Wegsehen.
Deshalb glaube ich, dass das Wort des leidenden, sterbenden Jesus ein Wort an uns, und vor allem an mich ist.
Wenn ich daran denke, wo, wie oft, an wem ich Jesus mitgekreuzigt habe, dann kann ich eigentlich nur schweigen und dann hören meine wortreichen und einfallsreichen Entschuldigungsversuche auf.
…
Schweigen, und einen anderen reden lassen.
Den einen reden lassen, der das alles, von mir auszuhalten hat.
Und der bittet Gott für mich um Vergebung.
Dass er das tut, dass er nicht mit einem Fluch über uns auf den Lippen stirbt oder unsere Entschuldigungsversuche nur entlarvt, sondern unsere Schuld trägt, das lässt mich weiterleben.
Und hoffen.
Weiterleben als einer, der versucht, künftige Schuld zu vermeiden und der doch weiß, dass das nicht geht.
Ich bin als Mensch, ob als Pfarrer oder Gemeindemitglied oder als jemand anderes, ich bin als Mensch auf Vergebung angewiesen.
Und auf Neuanfang.
Und schon lange bevor ich gedacht wurde und selbst gedacht habe, hat Jesus daran gedacht, Gott um Vergebung für das zu bitten, womit ich wissentlich oder unwissentlich Leid hervorrufe.
Und gerade für die vielen Fälle, wo ich gar nicht weiß oder mitbekomme, was mein Tun und Handeln auslöst, bittet schon Jesus selbst: Vater, vergib ihm!
Gut, dass das so ist.
Wie sollten wir sonst weiterleben können?
Amen.
Kommen Sie und die Ihnen anvertrauten gut durch diese Zeit!
Ihr Pfarrer Sebastian Wilhelm