Mit welchen Augen gehen Sie in das neue Jahr?
„Augen auf im Straßenverkehr!“, so lautet ein guter Rat und eine Redewendung, wenn es darum geht sicher irgendwo anzukommen.
Vielleicht ist eine Jahreslosung damit vergleichbar: ein Wort, eine Erinnerung, gut in und durch das neue Jahr zu kommen.
Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! (Lukas 6,36)
Dieses Wort ist als Jahreslosung der sogenannten „Feldrede“ Jesu entnommen worden, die der Evangelist Lukas überliefert. Was es heißt, barmherzig zu sein, führt Jesus in den weiteren Versen des 6. Kapitels aus: nicht zu verurteilen und zu verdammen, sondern zu vergeben und zu teilen. Oder – anders gesagt – den Nächsten mit den Augen der Liebe anzusehen. Warum aber mit Liebe? Liebe ist nach unserer Vorstellung doch etwas ganz Besonderes, Intimes, Exklusives. Genau darum geht es Jesus: die anderen Menschen nicht als graue Masse oder unzählige Nummern wahrzunehmen, sondern, daran zu denken, dass jeder Mensch etwas ganz Besonderes ist und bleibt. Die Liebe ist der Schlüssel bzw. – um im Bild zu bleiben – die Brille. Die Liebe nimmt nicht so sehr die Fehler oder die Schuld der anderen wahr, sondern vermag zweierlei erkennbar zu machen: die Schönheit, Einzigartigkeit und Besonderheit und die Not. Die seelisch-geistige und die körperlich-materielle Not. Wer Menschen so sehen kann, hat keinen gleichgültigen Blick, sondern warmherzige Augen.
Ich möchte mit den Augen der Liebe sehen. Das ist ein guter Vorsatz für das neue Jahr. Eine bewusste Entscheidung. Doch es ist, wie bei allen anderen guten Vorsätzen auch: Sie brauchen eine regelmäßige Erinnerung und Bekräftigung. Deshalb wird uns die Jahreslosung in den kommenden 12 Monaten immer wieder begegnen. Denn es kann mir schnell passieren, dass ich wieder mit meinen alten Augen schaue. Den Augen des Ichs, den Augen der Selbstgerechtigkeit und den Augen der Angst ausschließlich um mich selbst. Das sind die Augenblicke, in denen Dunkelheit in mein Leben kommt. Leider passiert das immer wieder.
Aber das Schöne an meinem Neujahrs-Vorsatz ist, selbst wenn es mir nicht immer gelingen sollte, mit den Augen der Liebe zu sehen, werden die Male, wo es gelingt, hell erstrahlen. Das werden die Momente sein, die das Leben nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitmenschen und meine Umgebung hell und freundlich, glücklich und warm machen. Barmherzig.
Und noch etwas wird mein Leben im neuen Jahr prägen: Ich werde darauf vertrauen, auch mit solchen Augen der Liebe von anderen angesehen zu werden.
Haben Sie ein behütetes und hoffnungsvolles neues Jahr!
Ihr Pfarrer Sebastian Wilhelm