Ich gehöre streng genommen nicht wirklich zur evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Oslo, sondern bin mehr in der lokalen norwegischen Gemeinde unterwegs, bin aber nichts desto trotz Deutsche und fühle mich damit in gewisser Weise verbunden. Als ich nun das Bedürfnis hatte, meine Gedanken zur aktuellen Lage zu ordnen, habe ich einen Text geschrieben, und zwar auf deutsch, da mir das am leichtesten fiel. Jetzt, wo der Text fertig ist, würde ich ihn gerne teilen in der Hoffnung, dass er mehr Menschen Freude und Kraft geben kann.
Mit lieben Grüßen und den besten Wünschen, Britta Schäfer
Passionszeit
Ich feire keinen Karneval. Deswegen vergesse ich auch alle Jahre wieder, wann denn eigentlich die Passionszeit anfängt – auch wenn sie mir eigentlich etwas bedeutet: einen genaueren Blick werfen auf das Leid in der Welt, reflektieren darüber, was mein eigenes Handeln damit zu tun hat, innehalten. Hinsehen, wo meine Nächsten mich brauchen, auch da, wo ich normalerweise aus Bequemlichkeit wegsehe, auf mich selbst konzentriert bin.
Eigentlich völlig zufälligerweise war ich dieses Jahr am ersten Sonntag der Passionszeit im Gottesdienst, in meiner Gemeinde in Røa in Oslo, wo ich seit Oktober lebe. Das Skifest am Holmenkollen am gleichen Wochenende war für Besucher gesperrt worden, ich hatte also Zeit. Das Thema des Gottesdienstes war Versuchungen, es ging um den Sündenfall im Paradies in der Lesung, die Predigt behandelte Jesu Versuchung durch den Teufel in der Wüste. Ich muss gestehen, dass beide Texte nicht zu meinen Vertrautesten in der Bibel gehören, aber ich ging definitiv gestärkt nach Hause in der Gewissheit, dass auch ich dem Bösen widerstehen und zu dem Guten stehen kann, wenn Jesus das in einer seiner schwächsten Lagen geschafft hat – durch Glauben und Vertrauen.
Auch wenn mit der Absage des Skifests am Holmenkollen das Coronavirus sichtlich im öffentlichen Leben in Oslo angekommen war, war noch niemandem in meinem Umfeld der Ernst der Lage bewusst. Ich schrieb meiner Mutter bzgl. der Absage noch scherzend „Und ich dachte, Norweger seien weniger hysterisch als Italiener“ und hätte nie daran gedacht, dass sich nur wenige Tage später fast der gesamte Kontinent im kompletten Ausnahmezustand befinden sollte. Für mich persönlich war die größte Enttäuschung am Donnerstagabend zunächst, dass die Messkampagne in Nordnorwegen, von der ich wichtige Daten für meine Doktorarbeit bekommen sollte, abgesagt wurde, weniger als 24h vor meiner geplanten Abreise.
Zweifellos sind die getroffenen Maßnahmen richtig und geschehen aus Nächstenliebe und Solidarität zu allen Mitgliedern unserer Gesellschaft, den Schwachen wie den Starken. Und doch haben wir Menschen als soziale Wesen große Schwierigkeiten, uns an den neuen Alltag zu gewöhnen. Alles, was sonst zur Aufmunterung oder zum Trost beiträgt – eine Umarmung, körperliche Nähe, Zärtlichkeit – sind plötzlich verboten, ebenso alle Gemeinschaftsaktivitäten, mit denen wir sonst unserem Leben Sinn geben: Sportvereine, das Treffen zum gemeinsamen Musikmachen oder –hören, das Ausgehen mit Freunden. Und wenn das nicht schon genug wäre, dann gibt es da noch die Reisebeschränkungen, die das Gefühl der Isolation verstärken, dadurch, dass ich z.B. nicht einfach meine Freunde in Rostock besuchen könnte. Das hätte ich auch ohne Corona frühestens zu Ostern vorgehabt, aber allein der Gedanke, dass ich nun durch Grenzpolizisten von meiner alten Heimat getrennt bin, verletzt mich trotzdem.
Woher also Hoffnung schöpfen und Sinn finden in dieser Zeit? Formell bin ich in der besten Position, die man in der momentanen Lage haben kann: Ich kann von zuhause aus arbeiten und bekomme mein volles Gehalt, habe außerdem keine Kinder, die mich beim Arbeiten ablenken könnten – andererseits aber auch niemandem zum Reden im Haushalt, keine soziale Kontrolle darüber, wie ich meine Zeit verbringe. Niemand würde es merken, wenn ich einen ganzen Tag heulend im Bett zubrächte. Doch so schlimm ist meine Lage bei Weitem nicht: Ich bin froh am Stadtrand zu wohnen, einen Garten zu haben und genieße den kurzen Weg in die Natur. Was mir jedoch am meisten Kraft gibt, ist die Dankbarkeit für das soziale Leben, das ich normalerweise so selbstverständlich um mich habe: die vielen Trainingsgruppen des studentischen Sportvereins OSI, die rührende Gemeinschaft an der für mich besten Musikhochschule der Welt und Menschen an der Universität, auf die man sich verlassen kann. Nicht zuletzt bin ich unglaublich dankbar dafür, dass ich im Januar eine der wunderbarsten Wochen meines Lebens in Rostock verbringen und mein liebstes Hornkonzert als Solistin mit meinem liebsten Orchester spielen durfte. All das wäre in der jetzigen Lage undenkbar. Aber all das ist nicht für immer verloren: Es wird eine Zeit geben nach der Corona-Pandemie und ich kann mir bisher noch nicht ausmalen, wie groß die Wiedersehensfreude sein wird, wenn nach und nach immer mehr Veranstaltungen wieder stattfinden können, die Grenzen der Länder wieder öffnen, geliebte Menschen endlich wieder beisammen sein dürfen.
Was für ein Fest wird das werden! Genau wie die Beschränkungen zurzeit an kriegsähnliche Zustände erinnern, wird das Ende der Pandemie wie ein Frieden kommen, nur mit der Chance, dass wir alle Siegerinnen sein können! Sieger über ein Virus, das keine Grenzen zwischen Ländern und Menschen kennt, Siegerinnen über Ängste und Zweifel, die in der Isolation entstehen, Sieger über alle Versuchungen, die uns gerade jetzt heimsuchen, wo wir am schwächsten sind. Wie leicht ist es, zu denken, dass irgendjemand Schuld haben muss an dieser Katastrophe: Die Chinesen, weil das Virus dort zuerst auftrat und sie es nicht schnell genug eingedämmt haben? Italien, weil viele andere europäische Staaten ihre ersten Fälle von dort bekamen? All diese Vorwürfe sind vollkommen haltlos, vielmehr sind doch diese Staaten bisher am heftigsten getroffen, haben die höchste Zahl an Todesopfern zu beklagen und benötigen Solidarität. Am Ende der Krise können alle von allen lernen: Staaten, die sich erfolgreicher gegen das Virus geschützt haben, können anderen ihre Strategien näherbringen und umgekehrt vom Erfahrungswissen der härter getroffenen Länder profitieren, den Fortschritten in der Entwicklung von Impfstoffen oder dem Umgang mit den ökonomischen Folgen, die ja ohnehin weltweit zu spüren sind. Nicht zuletzt zeigt uns der Umgang mit der Corona-Pandemie, wie effektiv und wirksam Maßnahmen in Krisensituationen sein können, und, dass sie in der Bevölkerung breite Zustimmung finden. Daraus können wir als Weltgemeinschaft auch für den Kampf gegen den Klimawandel so Einiges lernen.
Lasst uns also bewusst die Vorfreude pflegen auf eine Zeit, in der wir wieder uneingeschränkt zusammenleben und feiern können! Im momentanen Zeitplan vieler europäischer Regierungen fällt das Ende der starken Einschränkungen in etwa mit Ostern zusammen und mir gefällt dieser Gedanke. Im christlichen Glauben gibt es keinen größeren Sieg als die Auferstehung Jesu von den Toten. Sie gibt uns die Gewissheit, dass Gott Mensch geworden und immer bei uns Menschen ist. Er leidet mit uns in der Krise, erleidet den Tod am Kreuz. Seine Allmacht besteht im Sieg über den Tod, der Vergebung der Sünden und in der Nachfolge Christi durch uns Menschen.
In einer Situation wie der momentanen ist es umso wichtiger, einander zu zeigen „Gott ist bei dir“, indem wir einander helfen, auch wenn das auf ungewohnte Arten geschehen muss. Lasst uns statt Resignation die Chancen sehen, die die gewonnene Zeit uns bietet – für die Menschen, die uns gerade nahe sind, aber auch für uns selbst zum Auftanken. Ich selbst nutze die Zeit für Dinge, die im Alltag oft zurückbleiben: ein gutes Buch lesen, stricken, etwas Besonderes kochen, ja sogar eine neue Sprache lernen.
Ganz sicher weiß ich eines: Auf die Passionszeit folgt Ostern, möge sie auch noch so lang erscheinen. Auch auf die Corona-Krisenzeit folgt eine Zeit des Wiederaufblühens, die wir dafür umso mehr genießen werden. Und dabei spielt es für mich dann keine große Rolle mehr, ob dieses besondere Fest schon an Ostern stattfinden kann oder erst später. Bis dahin gilt: Seid füreinander da und behaltet die Hoffnung!
Möge uns die Tageslosung für den heutigen Freitag, den 20. März, eine gute Kraftquelle dazu sein: „Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ 2. Korinther 12, 10
Britta Schäfer, Oslo, 20. März 2020