Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in Norwegen
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Adventskalender

Geschichten, Inspirationen, Gedanken, Sternminuten — Zugehen auf Weihnachten

09 Augenblick

Augenblick

Der Leuchtturm steht auf dem höchsten Punkt der Felseninsel und schaut hinaus auf den Atlantik. Über dem schwarzen Wasser wölbt sich ein Grau. Der Wind schneidet Eisluft. Kein Schiff, kein Mensch so weit das Auge reicht. Ich stehe vor dem Häuschen neben dem Leuchtturm, das einen Riegel vor der Tür trägt.

“Sie kommen und sie gehen”, sagt der Leuchtturm. Ich betrachte das Haus, höre das Wasser, fühle den Wind wie Nadeln im Gesicht. “Und du?”, frage ich. “Ich bleibe”, sagt er.
“Keine Pläne, dich zu ersetzen?”
“Licht brauchen sie immer”, sagt der Leuchtturm und klingt bescheiden dabei.
“Land in Sicht”, murmele ich. Beide schauen wir aufs Wasser hinaus. Halten dem Eiswind stand. Er kann uns nichts anhaben.
“Wie machst du das?”, frage ich den Leuchtturm.
Er zwinkert mir zu. “Drei Blinks alle dreißig Sekunden und zwei Blitze alle zwanzig Sekunden, sobald es dunkel wird.”

08 Widerstand

Widerstand

Der Schnee knirscht so schön unter meinen Füßen. Wie viele Schneeflocken habe ich heute zertreten? Jedes dritte Kind kann nicht richtig rechnen, sagt die Pisa-Studie. Das ist ungefähr die Hälfte. Ich zähle zertretene Wunder und geb’s auf: Die steiggefrorenen Finger lassen sich nicht bewegen. Ich muss in meinem Alltag Pausen einbauen. Das nächste Adventswochenende kommt bestimmt. Vorher Homeoffice. Am liebsten freitags. Ich gehe zu spät ins Bett. Es ist Advent.

07 Es ist Zeit

Es ist Zeit, das Licht zu halten.
Es ist Mandelzeit.
Es ist Zeit, Momente zu sammeln.
Es ist Zeit, dass Könige sich auf den Weg machen.
Es ist Zeit, die wiederkehrt.
Es ist Frierzeit und Wärmzeit.
Es ist die Zeit, in der etwas geboren werden will.

06 Nikolauskrater

Der Nikolaus gibt sich keine Mühe, sein Gähnen zu verstecken. Es stört ihn nicht, wenn alle sehen, dass er sich langweilt. In diesem Augenblick wünscht er sich, wie ein Meteorit auf die Erde zu stürzen. Unerwartet. Aus einem noch glühenden Himmel mitten auf den Weg zwischen ahnungslosen Menschen. Könnte sein, dass er jemandem auf die Füße fällt. Alles wäre besser als das ewige Immergleiche, das Erwartetwerden, das alberne Ho-ho-ho, die tiefe Stimme, die Frage nach braven Kindern und die süßen Geschenke. Stattdessen wünscht er sich ein Erschrecken, einen kleinen Krater im Vorgarten. Die Leute würden zusammenzucken. Würden aufhören, egal was sie gerade Wichtiges zu tun haben. Würden zusammenlaufen, vom Kraterrand hinunterblicken. Dort unten würden sie das sehen, was von ihm beim Eintritt in die Menschensphäre nicht verdampft ist: Der Hirtenstab, seine Schwäche für die Hungernden und ein Friedensschwur.

05 Kleine Prophetie

Kleine Prophetie

Das Morgenrot hält sich den ganzen Tag. Der Stern scheint zur Mittagsstunde. Wir werden selig durch den Schnee wandern von einem Feuer zum anderen. Kinder tanzen dort und singen. Das morsche Holz wird gut genug sein, um ein Haus zu bauen. Schiefe Töne werden sich über den Himmel verteilen. Die Luft voller Musik wird die Geldzähler zu Hirten verwandeln und Knauserige zu Wirten. Der Abend wird der Morgen sein. Alle werden aufstehen, erfrischt und ausgeschlafen. Die Wege werden wie der Himmel sein: endlos und morgenrot.

04 First date

First date

 

“Wo?”, hatte Gott gefragt.
“Vorm Kiosk”, hatte Maria gesagt. “Da wo die Leute cornern.”
Gott trug einen Hoodie und gefiel ihr. Trotz des Namens. Der war eine Nummer zu groß, und sie wusste nicht, ob sie ihm glauben soll. Dass er ein Kind will, hatte er als allererstes gesagt.
“Warum?”, wollte Maria wissen.
“Damit ich mich spiegeln kann.”
Vielleicht nuschelte er. Vielleicht fuhr ein Bus vorbei, jedenfalls verstand Maria “spielen”. Damit ich spielen kann. Das berührte sie.
“So allein? Oder warum spielen?”
“Spiegeln”, wiederholte Gott nun überdeutlich. “Und ja, so allein. Alleinsein, das passt nicht zu mir.”
“Spiegeln”, murmelte Maria. Sie musterte ihn von oben bis unten. “Reicht es dir nicht, dass es dich einmal gibt?”
Gott lächelte als würde er sich über Marias etwas unwirsche Antwort freuen. “Eben drum”, sagte Gott, “deshalb frage ich dich ja. In einem Kind kann ich nochmal ganz anders zur Welt kommen.”
“Hui, bist ‘n kleiner Philosoph, was?”
“Ich sage einfach, was ich denke. Und was ich will”, antwortete Gott.
“Naja, wer sich Gott nennt…”. Maria brachte den Satz nicht zu Ende, weil sich ein anderer Gedanke dazwischen schob. “Warum ich?”, fragte sie.
“Du gefällst mir.”
“Aber an mir ist überhaupt nichts Besonderes.”
“Gerade deshalb”, sagte Gott. “Ich will kein besonderes Kind, ich will ein ganz normales.”
“Und wie stellst du dir das vor? Was soll ich tun?”
“Nichts”, sagte Gott.
Maria musste grinsen. “Von nichts kommt nichts”, sagte sie.
“Doch”, sagte Gott, “bei mir schon.”
“Du bist lustig”, sagte Maria.
“Ich bin so wie ich bin. Kann halt nicht anders”, sagte Gott kein bisschen entschuldigend.
“Also, was muss ich tun?”, fragte Maria noch einmal.
“Ja sagen. Vertrauen haben. So kommen Kinder zur Welt.”
“Ich seh schon, du hast ja voll die Ahnung”, sagte Maria und bereute im selben Augenblick den spöttischen Ton.
“Ist das ein Ja?”, fragte Gott.
“Meinetwegen”, sagte Maria, “da bin ich mal gespannt.”
“Super”, sagte Gott. “Komm, ich geb dir einen aus”, und kaufte für Maria am Kiosk eine Bockwurst und ein alkoholfreies Bier. Er selber nahm nichts.

03 Herein

Herein

Ich nehme den Tee pur, wie jeden Morgen. Kandis müsste noch irgendwo sein. Die Apfelsinen dösen noch im Supermarkt. Aber Zitronenschale hätte ich. “Erstmal die Kerze”, denke ich. Die grüne, die neben den drei anderen da auf der Küchenkommode steht. Ohne Kugeln, Zapfen und Tannengrün. Soweit bin ich noch nicht. Da klopft es. Ohne ein Wort tritt der Advent herein. Zerzaust, Schneeflocken im Haar, und so langsam wie minus zehn Grad. Kein Gruß, nur ein milder Blick. “Hier bitte”, sagt er, als würde er dabei einatmen, und wirft mit seiner steifgefrorenen Hand Orangenschale in meinen Tee. Eine Nelke hinterher. Der Duft verwandelt mich. “Kandis hätte ich noch, irgendwo”, murmele ich verlegen. “Muss nicht”, sagt er. “Doch”, sage ich und finde ihn auf wundersame Weise auf Anhieb in der Küchenkommode. Lege einen in seinen Becher, schenke ihm ein. Es knackt als würde sich ein Schloss öffnen. Wir setzen die Becher an den Mund wie beim ersten Kuss, ganz vorsichtig, weil wir nicht wissen, was noch kommt.

02 Kleine Standortbestimmung

Kleine Standortbestimmung

Ich bin müde, obwohl ich genug geschlafen habe. Eigenartig. Die Müdigkeit sitzt nicht in den Knochen, hängt nicht bleiern an den Augenlidern. Sie liegt über dem Herzen. Es muss noch aufwachen. Wohl zu der halben Nacht.
In der Weihnachtsgeschichte wäre ich die Laterne im Stall. Mal hält mich Josef in die Höhe, mal stehe ich an der Seite, irgendwo oben. Ich gebe Licht. Nicht mehr, nicht weniger. Bin einfach da. Werde gebraucht. Nicht für alles auf einmal. Nur für das Eine. Mir fehlt das. Ich habe es verlernt, einfach nur da zu sein. Im Dunkeln reicht ja schon ein kleines Licht. Eines so wie ich. Der Engel sagt: Welch eine Freude, dich zu sehen.

01 Wo der Advent beginnt

01 Wo der Advent beginnt

Der Advent beginnt auf der kleinen Anhöhe im Park nebenan, wo der Blick nach Osten frei ist und um 8.03 Uhr sich der wolkenlose Himmel rot färbt.
Der Advent beginnt mit den Nachrichten: Es wird wieder geschossen. Der Frieden verspätet sich.
Der Advent beginnt in den Augen von Clara, die so auf ihr Neugeborenes blickt, als wäre alle Sehnsucht gestillt.
Der Advent beginnt mitten in der Nacht, in der Tonje nicht schlafen kann, weil sie auf Jasper wartet. Aber er hat sich entschieden zu gehen.
Der Advent beginnt auf meinem Schreibtisch, wo jetzt die halb abgebrannte rote Kerze steht, die ich in einer Kiste mit lauter Zeug gefunden habe. Die genügt fürs Erste.

Zur Welt kommen

Zur Welt kommen

Zur Welt kommen – Ein Adventskalender

Vom 1. Advent bis Heiligabend jeden Tag hier an dieser Stelle (oder auch bei Instagram) Inspirationen, Gedanken, Geschichten, Sternminuten.

Wartest du auf Weihnachten oder wartet Weihnachten auf dich? Ist Advent der alte Bekannte, den du nach langer Zeit endlich mal wieder siehst? Wie lange darf er bleiben? Auch über Nacht? Was gefällt Gott am Advent? Sind mehr Engel unterwegs?

War es schon mal erfüllend, einen Wunsch aufzugeben? Ist Advent ohne den Nikolaus vorstellbar? Kommst mit etwas wie die Jungfrau zum Kinde? Hältst du es für möglich, dass Gott dich besuchen möchte?

Alle Texte von Lutz Tietje
Fotos von Lutz Tietje und pixabay.de
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